Der Streit um ABA bei DRadio Wissen

Soeben hörte ich den Beitrag „ABA – Applied Behavior Analysis Streit um Autismus-Therapie“ bei DRadio Wissen. Ein Interview mit dem Medizin- und Wissenschaftsjournalisten Volkart Wildermuth zum Thema ABA.
Es handelt sich um einen Folgebeitrag zu dem Interview „Marlies Hübner über Autismus: „ABA ist eine ganz gefährliche Sache““.

Herr Wildermuth hat sich sicherlich Beiträge beider Seiten angesehen/angehört und benennt auch Teile der Kritik. Doch merke ich deutlich, dass er die Sprache der Anbieter zum Teil recht perfekt übernommen hat, deren Art zu „argumentieren“, und dabei übersehen hat, dass es auch daran Kritik gibt.
Meine direkte Frage dazu ist:
Mit welchen Experten haben Sie gesprochen, Herr Wildermuth?

„Es gibt aber auch andere Autisten, die sagen, sie haben von ABA profitiert, einfach weil sie sonst gar keinen Weg rein in die Gesellschaft gefunden hätten.“

Dazu sind mir nur extrem wenige Beiträge bekannt, zumeist mit umstrittener FC verfasst. Die meisten positiven Berichte jedoch kommen von Eltern und Anbietern, nicht von Autisten selbst.
Mir stellt sich die Frage, was das bedeutet, „in die Gesellschaft reinzufinden“. Warum ist ein Autist nicht so wie er ist Teil der Gesellschaft? Ist das nicht eher die Grundproblematik?
Der Mangel an Inklusion?

Volkart Wildermuth spricht weiter über das breite Spektrum – und missversteht es leider als linear in stark und schwach einteilbar. Doch sieht das Spektrum eher so aus:
Comic Redesigns the Autism Spectrum to Crush Stereotypes
Natürlich gibt es Autisten, die zum Beispiel sich selbst verletzen, wie Wildermuth es auch benennt, doch gibt es wertschätzenderen Umgang damit als ABA. Umgang, bei dem auch beachtet wird, was die Gründe für dieses Verhalten sind, ob Reizüberflutungen vorliegen, wie man sie vermeiden kann etc., statt nur das Verhalten nach außen zu verändern und die Ursache außer Acht zu lassen. Es hilft keinem Autisten, wenn er sich durch Training nicht mehr selbst verletzt, obwohl er immer noch dauernd im Meltdown steckt. Das geht dann auf die Psyche.
Zum Thema ABA bei „schwerer betroffenen Autisten“ gibt es einen schönen Blogbeitrag:
„Aber bei den schweren Fällen ist ABA okay“ von butterblumenland

Wildermuth benennt dieses Verhalten als riesige Belastung für die Eltern. Welche Belastung es sein kann, dauernd den Ansprüchen der Umgebung gerecht werden zu müssen, ohne dass die Umgebung entsprechend sich auch mal etwas anpasst (Menschen) bzw. angepasst wird (Reize wie surrende Netzteile, flackernde Lampen, kratzende Stoffe …), fällt unter den Tisch. Autisten, auch die, die im Beitrag als „schwerer betroffen“ formuliert werden, bringen dahingehend ohnehin schon so viel Leistung auf. Unter ABA wird davon immer mehr und mehr gefordert.

„[…] und hier zu sagen ‚Das ist einfach eine andere Form der Wahrnehmung, lass die mal in Ruhe‘, ich glaub das greift zu kurz. Da lässt man dann nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder allein.“

So kurz hat allerdings niemand gegriffen, auch die Kritiker von ABA nicht.
ABA-Befürworter bringen oft das Argument „ABA vs. nichts tun“, um damit die Kritiker zu diskreditieren. Doch kenne ich keinen ABA-Kritiker, der gegen jede Art von Hilfen, Unterstützung oder auch Therapien anredet. Nicht einen.
Im Gegenteil fordern wir einen wertschätzenderen, menschenwürdigeren Umgang ein, der natürlich auch beinhaltet, dass das Kind auch gefordert wird.

„Das kommt aus dem Behaviorismus, dass man dachte, das Kind ist praktisch beliebig formbar. Das ist heute überholt, aber die Methoden, die damals entwickelt wurden, die leben in der Verhaltenstherapie weiter.“

Das ist sehr typische Rhetorik von ABA-Befürwortern. Sie mixen Begrifflichkeiten.
Es wird von AVT (Autismusspezifischer Verhaltenstherapie)/ABA (Applied Behavior Analysis) geredet, aber der Begriff „Verhaltenstherapie“ verwendet – mit dem sonst überall die von AVT/ABA doch erheblich abweichende, gar als Gegenbewegung zum Behaviorismus begründete KVT (Kognitive Verhaltenstherapie) gemeint ist.
Diese Vermischung der Begrifflichkeiten relativiert AVT/ABA, versucht, sie aus der Ecke des behavioristischen Gedankenguts herauszuholen. Darauf sollte man nicht hereinfallen!

Wildermuth benennt Ziele von AVT/ABA. Praktische Dinge wie selbst zur Toilette zu gehen, anziehen, Sicherheit im Straßenverkehr. Das sind sicherlich Ziele, die gut und wichtig zu erreichen sind – aber eben auch ohne ABA erreicht werden können. Gerade beim ersten Punkt ist zu beachten, dass nicht jedes Kind im exakt gleichen Alter mit der körperlichen Entwicklung so weit ist, überhaupt zu merken, ob es zur Toilette muss. Oder das körperlich schon kontrollieren zu können. Autismus ist als Tiefgreifende Entwicklungsstörung definiert, da kann das auch mal länger dauern. Da ist zu frühes intensives Toilettentraining absolut nicht hilfreich. Auch ist zu beachten, ob solche Problematiken an Reizüberflutung liegen. Ist im Bad irgendetwas, eine flackernde Leuchtstoffröhre zum Beispiel, die das Kind hindert, gern hineinzugehen? Ist die Kleidung, die es anziehen soll, kratzig, zu glatt, zu eng, zu weit? Hat sie juckende Waschzettel? Solche Fragen sollte man sich stellen – denn auch dort können Gründe liegen, warum das Kind sich nicht anziehen mag – obwohl es vielleicht längst kann.
Kommunikation und sprechen zu lernen benennt Wildermuth als wichtigen Bereich. Auch Bildkarten benennt er als Möglichkeit, wobei er dabei vermutlich PECS, einen Teil von ABA, meinen wird.
Oft behaupten ABA-Befürworter, Autisten würden ohne ABA gar nicht kommunizieren – beschreiben aber zeitgleich, wie das Kind schreit oder sich wehrt etc. Sie scheinen nicht zu bemerken, dass auch das Kommunikation ist, und lassen diese daher zu oft an sich vorbeigleiten. Natürlich ist es einfacher, wenn mein Gegenüber sprechen kann. Doch sollte man immer auf die Kommunikation schauen, die schon da ist (verlinkt ist ein mögliches Beispiel), sie lesen/verstehen lernen. Bildkarten finde ich auch absolut in Ordnung – aber nicht in Form von PECS/ABA antrainiert. Das geht auch anders.
Weitere Ziele von ABA seien soziale Fähigkeiten wie Augenkontakt, andere zu imitieren oder Gesichtsausdrücke zu deuten, so Wildermuth.
Autisten sagen oft, dass sie sich auf das Gespräch, die Inhalte, nur schlecht oder gar nicht konzentrieren können, wenn sie Blickkontakt (Augenkontakt wäre doch etwas fies) halten sollen oder auch, wenn sie versuchen, die ganze Zeit die Gesichtsausdrücke des Gegenübers zu deuten. Gerade zum Thema Blickkontakt gibt es eine neue Studie, die an dieser Stelle wichtig ist – wohlbemerkt eine Studie zu Blickkontakt und Nicht-Autisten:


„Und es geht auch darum, eine Weile ohne diese Beruhigung der ständigen Widerholung von Bewegungen auszukommen.“

Die große Frage, die sich wohl viele Autisten dabei stellen, ist: Warum? Stört Stimming, so nennt man das, die Nicht-Autisten zu sehr?
Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst schreibt dazu in seinem Buch „Autismus und ADHS. Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit“:

Vor allem autistische Kinder versuchen sich spontan häufig durch repetitive schaukelnde Bewegungen zu beruhigen, was oft auch sehr gut funktioniert. Im späteren Kindesalter werden solche Verhaltensweisen von Eltern, Erziehern oder auch Altersgenossen dann oft als sozial unangemessen kritisiert, weshalb viele autistische Menschen im weiteren Verlauf dieses Schaukeln vollkommen unterdrücken. Dies ist dann nachteilig, wenn damit eine einfache, gut funktionierende und nebenwirkungsfreie Methode der Anspannungsregulation wegfällt. In manchen Fällen ist es Therapieziel im Freiburger Therapiekonzept für Erwachsene mit Autismus, diese effektive Methode zur Anspannungsregulation wieder neu zu erlernen.


„Und wenn das klappt, dann lobt man das ganz doll, dann bietet man ihm auch etwas an, was ihm Spaß macht.“

Das klingt in solchen Beschreibungen immer ganz toll. In der Realität darf das Kind dann einige Sekunden etwas mit seinem Lieblingsgegenstand tun, ja, Sekunden, oder kriegt ein kleines Bonbon und schon geht es weiter im Training. Nach und nach sollen diese Verstärker dann ersetzt werden, dann wird nur noch laut gejubelt oder das Kind gekitzelt – wohlbemerkt bei Autisten, denen gerade laute Geräusche oder plötzliche Berührungen oftmals unangenehm bis schmerzhaft sind.
In einem Video ist gar zu sehen, dass das Kind den begehrten Gegenstand in den paar Sekunden der Verstärkung dann auch noch so benutzen sollte, wie die Therapeutin das gern wollte.

„Positive Verstärkung. Das machen eigentlich alle Kinder bei der Erziehung, aber bei diesen Kindern aus dem autistischen Bereich, da braucht es einfach viel mehr Wiederholungen. Die Schleife wieder aufmachen, gleich noch mal noch mal noch mal.“

Auch sehr schöne Befürworter-Rhetorik. Punkt 11 in diesem Artikel geht darauf ein:
ABA-Rhetorik in Stichpunkten – 11. Das ganze Leben ist Konditionierung
Zu den vielen Wiederholungen, die Autisten bräuchten, gibt es eine widerlegende Studie:

A new study published in Nature Neuroscience shows that training individuals with ASD to acquire new information by repeating the information actually harms their ability to apply that learned knowledge to other situations. This finding, by an international research team, challenges the popular educational approaches designed for ASD individuals that focus on repetition and drills.

Wildermuth mutmaßt über die Herkunft des schlechten Bildes, das ABA abgibt, die Unterrichtssituation oder auch die Elektroschocks fallen ihm dazu ein.
Nein, das negative Bild kommt nicht nur durch die Unterrichtssituationen am Tisch, sondern gerade auch dadurch, dass eben der ganze Alltag mit dem Training zugepflastert wird. Eine 40-Stunden-Woche oder gar die gesamte Wachzeit Therapie für Kleinkinder ab zwei Jahren!
Mir ist auch bewusst, dass Elektroschocks zumindest in Deutschland nicht mehr zur Anwendung kommen bei ABA – soweit bekannt. Sehr wohl aber noch immer im Judge Rotenberg Center in den USA.
Elektroschocks an sich sind allerdings auch nicht der Punkt der Kritik an heute praktizierter ABA. Kritikpunkt ist, dass die „Erfolgsquote“ von 47 % bei der bis heute von ABA-Befürwortern hochgehaltenen Studie nur unter Anwendung von Aversiva, darunter zumindest auch Schläge, zustandekam.

High rates of aggressive and self-stimulatory behaviors were reduced by being ignored; by the use of time-out; by the shaping of alternate, more socially acceptable forms of behavior; and (as a last resort) by the delivery of a loud „no“ or a slap on the thigh contingent upon the presence of the undesirable behavior.
Contingent physical aversives were not used in the control group because inadequate staffing in that group did not allow for adequate teaching of alternate, socially appropriate behaviors.


Wildermuth berichtet weiter, ABA sei die am besten untersuchte Behandlungsform für autistische Kinder.
Was hinter der Wissenschaftlichkeit und den Studien tatsächlich steckt, kann beim Realitaetsfilter nachgelesen werden:
Die Wissenschaft von ABA
Einzig absolut unseriöse Angebote, wie Delphintherapie, Gestütztes Schreiben und ätzende Bleichmittel (MMS), als „Kontrahenten“ von ABA zu benennen, rundet mein Bild ab, dass sich Wildermuth der Rhetorik der ABA-Befürworter bedient.

„Man muss sagen, in den USA oder auch in Asien ist diese ABA, dieser Ansatz völlig akzeptiert und wird dort auch vom Gesundheitssystem getragen.“

Über Asien weiß ich sehr wenig. In den USA jedoch gibt es großen Widerstand gegen ABA. Völlig akzeptiert?
Warum ich ABA verlassen habe (eine Übersetzung)
ABA – Bericht eines „Klienten“
Quiet Hands
My Thoughts on ABA
und und und …

Eine direkte Frage habe ich noch:
Herr Wildermuth, woher stammt die Zahl, bei vier von fünf Kindern würde ABA wirklich etwas bewirken?


8 Gedanken zu “Der Streit um ABA bei DRadio Wissen

  1. Pingback: Gedankenkarrussel
  2. „„Man muss sagen, in den USA oder auch in Asien ist diese ABA, dieser Ansatz völlig akzeptiert und wird dort auch vom Gesundheitssystem getragen.““

    Na und? Homöopathie wird von den Krankenkassen bezahlt. Muss ja dann ganz toll sein, oder?

  3. Ich finde diese Methoden so gruselig, mir läufts da immer kalt den Rücken runter. Training, um angepasst zu werden. Inhaltlich klingt mir das immer wie Hundeschule… und selbst dort würde über einige Methoden der Kopf geschüttelt werden! Das muss man sich mal vorstellen. Ein Kind wie ein Hündchen zu dressieren wäre allein schon abartig genug, und dann noch diese offensichtliche seelische Grausamkeit, die den Menschen dabei zugefügt wird! Ich werde nie begreifen, wer sich solche Sachen ausdenkt.

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