Vorgeschichte:
Heute fuhr ich mit dem Zug durch die Gegend. Am Bahnsteig stand geschrieben, der Zug würde in X getrennt werden, ein Teil führe dann nach Y weiter, der andere nach Z.
Ich jedoch wollte nach W!
Was ich nicht wusste, war, ob W nun vor oder hinter X liegt von meinem Startpunkt aus. Und wenn es hinter X läge, welcher Zugteil nun durch W führe. Ich ahnte zwar, dass W vor X liegen müsste, war aber doch unsicherer als erwartet.
Geschichte:
Der Zug steht schon da, hat Aufenthalt, ich habe noch Zeit. Ich suche mit den Augen den Bahnsteig ab, suche Bahnuniformen, scanne nach Menschen, die wissend wirken. Wie erkennt man Menschen, die wissend wirken?
Keine Uniformen. Ein einsteigender Herr. Er weiß nichts, obwohl er wissend wirkt.
Ich tigere noch ein wenig auf dem sich leerenden Bahnsteig auf und ab. Dunkelheit kriecht rund um den Bahnhof und kann ihn doch nicht durchdringen. Dann steige ich ein, in den Zugteil nach Y. Gucke mich um, suche einen Platz, der mir zusagt, suche wissende Gesichter.
Da sitzt eine Frau, ich sehe ihr Profil von schräg hinten auf einem Vierer, der Vierer auf der anderen Seite ist frei. Dahin will ich. Im Setzen frage ich meine Frage, sehe ihren Sohn, einen jungen Mann, neben ihr, richte die Frage auch an ihn. Er hat deutlich sichtbar das Down-Syndrom.
Die Dame schüttelt den Kopf, der junge Mann erklärt mir, laut und lächelnd, wo ich lesen kann, wohin der Zug fährt. Ein Mann eine Reihe hinter den beiden bejaht, dass W vor X liege, ein Mann eine Reihe vor mir erklärt, wo der Zug geteilt würde.
Nicht jede der Antworten ist so hilfreich wie gewünscht, alle zusammen ergeben aber ausreichend Information, mich zu beruhigen. Und der junge Mann mit Down-Syndrom lächelt mich an.
Dann wendet er sich seinem Buch zu, das Cover wirkt kindlich, „Wie man seine Eltern erzieht“. Er erklärt seiner Mutter etwas über das Buch, plant das Silvesteressen mit ihr, lächelt mich an, erzählt seiner Mutter etwas über seine Hörbücher.
Derweil sitzt mir gegenüber plötzlich eine Dame, wie aus dem Nichts, im Kreis häkelnd. Ich weise auf meine Mütze. „Auch selbstgemacht“, sage ich. Sie weist auf ihre auf ihrem Kopf und nickt. Dann erklärt sie mir Häkeltechniken, duzt mich wie selbstverständlich, ich duze wie selbstverständlich zurück. Keine Brücke zu bauen, eine Ebene, einfach so.
Sie bekommt neue Ideen für ihre Mütze beim Erklären, freut sich darüber, berichtet vom Neffen, der schon pingelig würde mit Kleidung, aber ihre Mütze möge, die sie ihm schenkte. Draußen kriecht die Dunkelheit umher und kann uns im Zug nichts anhaben.
Dann steigt sie aus.
Zwei Stationen weiter sind auch Mutter und Sohn daheim, er hatte mir schon laut erklärt, wo er wohnt, ich erzählte ihm, wo ich wohne. Er verabschiedet sich lächelnd, wünscht mir einen schönen Abend und ein schönes Wochenende. Ich wünsche es ihm ebenso.
Nun bin nur ich übrig. Mein Hörbuch kommt zum Einsatz. Einmal muss ich noch umsteigen an einem weiteren dunkelheitumkrochenen Bahnhof.
Doch in meinem Herzen strahlen diese Menschen, die häkelnde Dame, der junge Mann mit Down-Syndrom und seine Mutter, so nett und hilfsbereit, die beiden hilfsbereiten Herren. Menschen, die sind wie sie sind, die andere Menschen nehmen wie sie sind.
Das letzte Lächeln des jungen Mannes, das habe ich mir mitgenommen. Die herumkriechende Dunkelheit wird mich nicht kriegen, nicht heute Nacht.