Homeoffice mindert Sozialkontakte?

„Aber im Homeoffice versauerst du doch ohne Sozialkontakte!“

Oft gehört. Stimmt das so?
Für Autisten? Für mich?

Ich brauche relativ wenige Real-Life-Sozialkontakte.
Arbeite ich in einem Büro, schränkt das meine Sozialkontakte massiv ein, weil ich dort schon sozial agieren muss und nicht in meiner Umgebung bin, mich also nicht wie ich verhalten kann, sondern bis zu einem gewissen Grad maskiere[1].
Das ist enorm anstrengend, so dass ich nach einem Tag im Büro daheim platt bin.

Je nach Verlauf des Tages im Büro und meiner eigenen Verfassung, falle ich nach der Arbeit quasi direkt ins Bett für ca. 4 – 5 Stunden und weiß dann nachts nicht zu schlafen und kann auch nicht oder erst sehr spät kochen, da die exekutive Dysfunktion[2] stärker hervortritt, je größer der Overload ist.
Verlief der Tag gut für mich, kann ich ein wenig meiner Aufgaben im Internet noch erledigen, kochen und essen und schlafe dann sehr früh ein.

Zeit und Kraft für Sozialkontakte außer Haus fallen weg, ebenso für Haushaltsführung und Hobbys/Spezialinteressen, die für mich lebensessentiell zur Aufladung meiner Kraftreserven sind.
So entwickelt sich das zu einer Negativspirale, in der ich immer weiter nach unten rutsche.
Damit geht es mir dann auch psychisch nicht gut. Uneuphemistisch: Es geht mir damit nach spätestens zwei bis drei Monaten sauschlecht.

„Aber im Homeoffice sitzt du doch allein und siehst den ganzen Tag niemanden!“

Ja, das ist toll!
Arbeite ich im Homeoffice, läuft das nämlich vollkommen anders für mich.
Die Zeiteinteilung meiner Aufgaben ist für mich persönlich flexibler und somit anpassbar an meine persönlichen Routinen.
Ich muss nicht maskieren, ich kann stets ich sein. Ich kann stimmen (Stimming kann sehr vieles sein. Bekannte Beispiele sind das Schaukeln mit dem Oberkörper und Handflapping, aber es gibt weit mehr Methoden, wie verbales Stimming, bei dem man z. B. summt, das Spielen mit Gegenständen etc.), ohne dass es jemanden stört oder ich mich dabei blöde fühle, weil es noch kaum akzeptiert ist. Stimming ist sehr wichtig zur Reizregulierung.
Brauche ich gerade den Fernseher oder Musik, um Umgebungsgeräusche oder Körpergeräusche (rauschendes Blut in den Ohren, Herzschlag etc.) auszublenden (auch das kann Stimming sein, mit Hilfsmitteln Reize zu regulieren), kann ich bei der Arbeit fernsehen oder Musik hören. Brauche ich gerade Ruhe, kann ich mir Ruhe verschaffen, ohne Kollegen damit vor den Kopf zu stoßen.
Der Haushalt kann zumindest teilweise zwischendrin eingebaut werden. So kann ich bei jedem Gang in der Wohnung etwas mitnehmen oder machen. Das nimmt kaum Zeit von der eigentlichen Arbeit weg, aber ich habe sehr viel nebenbei erledigt, für das nach einem Arbeitstag im Büro einfach sämtliche Kraft fehlt.
Ich kann dann auch, wenn plötzlich nichts mehr geht, eine Auszeit nehmen, mich hinlegen oder eine Stunde in den Wald gehen und danach weiterarbeiten, weil es – außer bei Deadlines – nicht so wichtig ist, wann genau ich die Arbeit erledige, ob sechs Stunden am Stück oder drei Stunden am Vormittag und drei Stunden am Abend oder gar nachts, wenn es endlich überall ruhig ist.

Diese Art zu arbeiten, im Homeoffice, führt dazu, dass ich deutlich mehr Kraft für Real-Life-Sozialkontakte übrig habe.

Ich kann besser einkaufen gehen, aber auch Freundschaften pflegen.
Arbeite ich im Büro, muss ich Treffen mit Freunden öfter absagen, als ich sie einhalten kann.
Arbeite ich im Homeoffice, funktioniert das deutlich besser.

So viel dazu, ich würde im Homeoffice sozialkontaktbefreit versauern, wie Nicht-Autisten oft denken.
Das Gegenteil ist der Fall!
Nur so habe ich überhaupt die Kraft, einen Lebensalltag zu führen, der für mich erfüllend ist und auch Sozialkontakte beinhaltet, die mir etwas geben.


Zwei Artikel, die nach diesem Artikel gelesen werden sollten:
Overload, Shutdown, Meltdown und der Delayed After Effect
Risikofaktor Arbeitslosigkeit? Risikofaktor Arbeit!


[1] Dieses Maskieren findet auch dann statt, wenn Chef und Kollegen vom Autismus wissen. Und selbst dann, wenn sie damit wirklich positiv umgehen. Dann muss der Autist evtl. weniger maskieren, aber im Grunde nie gar nicht, denn er kann die Arbeit nicht auf die Nacht verschieben und sich jetzt sofort hinlegen, wenn es am Tag nicht mehr hinhaut, zum Beispiel. Egal wie gut der Umgang mit Autisten an dem Arbeitsplatz ist, vollkommen ohne zu maskieren läuft es nicht.
In einer recht neuen Studie wurde bestätigt, was Autisten schon seit vielen Jahren sagen.
Das Maskieren ist einer der Hauptgründe für die hohe Suizidalität unter Autisten.
Risk markers for suicidality in autistic adults

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[2]

Beschreibung der exekutiven Dysfunktion.

Erklärung, was bei der exekutiven Dysfunkion hilfreich sein kann.
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3 Gedanken zu “Homeoffice mindert Sozialkontakte?

  1. Was du schreibst, genau das ist mein Dilemma mit dem Thema Arbeit. Im Moment habe ich keine. Über einen Mangel an Sozialkontakten kann ich mich nicht beschweren – allerdings Dreh- und Angelpunkt derselben ist die Kirchgemeinde. Ich habe meine Struktur und bekomme den Haushalt so hin. Aber das befürchte ich auch: Wenn ich eine ausreichend bezahlte Arbeit habe, werde ich etliche der bisherigen Aktivitäten zurückfahren müssen. Dann ist wohl außer dem Gottesdienst nicht mehr wirklich was. Und ich mache dann zehn Kreuze, wenn ich Arbeit und Haushalt auf die Reihe bekomme, selbst wenn ich nur halbtags arbeiten würde. Supermarktaushilfe ist keine Option, weil es schon durch die schwankenden Arbeitszeiten meine Routinen kaputt macht. Und mein größtes Problem am Fehlen einer bezahlten (!) Arbeit ist der Geldmangel. Beschäftigen kann ich mich mit Ehrenämtern theoretisch genug. Nur manches scheitert dummerweise gerade am Geld (weil mir auch niemand die Fahrtkosten bezahlt, selbst wenn es zeitlich (eigenes Problemfeld bzw. auch wieder Geld, weil ich mir ja sonst einfach ein Taxi bestellen könnte) und kräftemäßig machbar ist). DAS ist frustrierend. Nicht die Nicht-Existenz eines Arbeitsvertrages.

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